Wort der Woche

Sag mersch nur, Bübele, wenn dr was fehlt! I wer dr dann zeige, wieste ohne des auskommsch!

Professor Dr. Wolfgang Stolls Tante Clara aus Biberach an der Riss

Der Abendgruß des DDR-Fernsehens ist eine der wenigen kulturellen Hervorbringungen des Arbeiter- und Bauernstaates, die mit viel Liebe ins gesamtdeutsche Inventar übernommen wurden. Das ist angesichts der bekanntermaßen kritischen Evaluation alles Ostdeutschen rätselhaft und erklärungsbedürftig. Der beliebte Puppen-Reigen um Pittiplatsch und Schnatterinchen, Herr Fuchs und Frau Elster, die ganze Märchenwald-Personage ist trotz einer Unzahl verdienstvoller Fan-Seiten gnadenlos unter-interpretiert und ich werde dem hiermit abhelfen. (Die nachfolgende Interpretation ist gültig, weitere Erörterungen erübrigen sich.) Das Figurenensemble des DDR-Kinderfernsehens mag selbst für seine Schöpfer in seiner Entstehungsgeschichte zufällig wirken, ist es aber nicht. Charaktere werden überhaupt nie erfunden, sondern gefunden. Im Kinderfernsehen ist dies noch wichtiger als anderswo, denn das televisionäre Heimatgefühl, die Akzeptanz durch die kleinen „Fernsehkieker“ (Pittiplatsch), verdankt sich allein der Wiedererkennbarkeit. Der DDR-Nachwuchs erblickte im Märchenwald eine Alltagswelt, die ihm in den einzelnen Charakteren aus Verwandtschaft, Nachbarschaft und Straße vertraut war. Sehen wir doch mal nach, welche Mentalitäten der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte sich hinter den Puppen des Abendgrußes verbergen. Fangen wir mit den Senioren an.

Herr Fuchs: Wir müssen nicht bis auf den Spitznamen Rommels als „Wüstenfuchs“ zurückgehen oder in der Behausung dieses Märchenwaldbewohners eine kaum verhohlene Anspielung auf Hitlers „Wolfschanze“ erkennen wollen, um klar zu sehen, dass Herr Fuchs ein ehemaliger Weltkriegsteilnehmer mit Ostfronterfahrung ist. Die Monate im Stalingrader Kessel haben ihn zu einem Gemütlichkeitsfanatiker werden lassen, der mit händereibender Vorfreude (man spürt geradezu, wie sich dieses Verhalten am Dosenfeuer, auf einem erfrorenen Pferd sitzend, ausgeprägt hat) seinen kleinen Wärmefreuden im Fuchsbau, Hühnersüppchen und Filzpantoffeln entgegenfiebert. Herr Fuchs ist kein Gesellschaftstier, kein sozialistischer Aufbauleiter, er hat seine Teilhabe im Weltkrieg abgeleistet und ist jetzt Privatmann. Er verlässt seinen Fuchsbau nur, um die Zutaten für eine neue Gemütlicheitsorgie zusammenzuholen. Auf der anderen Seite erleben wir in Herrn Fuchs den qual-loyalen, aber erfahrenen Soldaten, der die Unvernunft anderer, ihm vorgesetzter oder nahestehender Personen mit einem beherrscht-widerwillig-schicksalsergebenen „Tsassa Tssa, nein dieser / diese … (Adolf Hitler, Frau Elster, Borstel etc.) nur kommentiert. Man darf ihn also keinesfalls den Verschwörern des 20. Juli 1944 zuordnen, sondern muss ihn trotz seiner soldatisch-kernigen Ausdrucksweise eher als einen nie ganz zu politischer Klarheit gelangter Mitläufer ansprechen. In der DDR wahrscheinlich der NDPD angehörig.

Frau Elster: Zur Weltkriegsgeneration zählt auch Frau Elster, deren Vertriebenenschicksal aus jeder ihrer Regungen spricht. Frau Elsters Perlenkette ist wahrscheinlich der letzte Rest des Familienschmuckes, der bei der Flucht aus Ostpreußen gerettet werden konnte. Frau Elster entstammt in Wort und Gebärde erkennbar einem gutbürgerlichen Milieu. Sie hat nichts kleinweibchenhaftes Unterwürfiges, sondern das stählerne Kokettieren einer Dame aus den besseren Kreisen, wie wir es aus UFA-Filmen kennen. Ihr Distinktionsbedürfnis, ihr Bestehen auf gutem Benehmen, auf Etikette, ist in den Jahren in der gleichmacherischen Märchenwald-Kommune eher noch gewachsen. Altdeutsch und sehr schichtenspezifisch ist auch ihre Attitüde des spitzen Empörtseins, dass nur Zumutungen und Frechheiten kennt. Eine Welt aus den Fugen, die nicht mehr weiß, was sich gehört. Man verortet sie sicher richtig im DDR-Einzelhandel, an der Quelle von Likör und Pralinen, mit denen sich über den Verlust der Heimat tröstet. Die ungleiche Partnerschaft mit Herrn Fuchs resultiert zum einem aus dem gemeinsamen Opfererlebnis, andererseits ist die Herkunft von Herrn Fuchs deutlich proletarisch und Frau Elster versucht dies, zu tolerieren, um nicht zu vereinsamen. Vermutlich LDPD.

Onkel Uhu: Die andere Seite der Weltkriegsgeneration vertritt Onkel Uhu. Er steht der Waldschule vor, obschon er offensichtlich keine richtige Fachpädagogenausbildung, sondern wahrscheinlich nur eine flüchtige Neulehrerschulung in Staatsbürgerkunde absolviert hat. Er muss unbedingt der pro-aktiven DDR-Bevölkerung zugerechnet werden, doch erhebt sich die Frage, welches Kaderschicksal ihn in diese hinterwäldlerische Dorfschule verschlagen hat. Die Antwort: Onkel Uhu steht für den ehemaligen Spanienkämpfer, der zwar aus propagandistischen Pflichten in Ehren gehalten wird, aber ansonsten mit einem Pöstchen in der Provinz versorgt wird, damit er sich nicht unqualifiziert ins Hickhack der Parteioberen, die er alle noch jugendsündhaft aus KPD-Zeiten kennt, einmischt. Geläutert durch ein Übermaß miterlebter Sammelerschießungen in der Estremadura wirkt Onkel Uhu konfliktmildernd und konsensheischend auf die rebellische Märchenwaldjugend einwirkt, läßt aber am Staatsziel keine Zweifel zu. Kleine Ticks wie das ständige „Uhu, Uhu!“ legen nahe, dass er seinerseits mal Ende der Dreißiger zwischen die Mühlen stalinistisch-trotzkistischer Kämpfe geriet und ein paar Kellernächte seiner Hinrichtung entgegensehen musste, bevor ihn – möglicherweise ein Verrat an Genossen – wieder befreite.

Frau Igel: Das Kopftuch der Trümmerfrau, das sorgenvolle „Nuff, nuff, nuff!“, die ganze verhuschte Art und – nicht zuletzt – der zeituntypisch einzige Sohn namens Borstel dieser alleinstehenden Mutter lassen auf eine städtische Herkunft im Endkampfgebiet des Zweiten Weltkriegs schließen. Wahrscheinlich liegt hier eine folgenreiche Liaison mit einem russischen Offizier oder rationsbefugten Küchenbullen vor. Frau Igel hat nicht geheiratet und das ist im verdruckst-konservativen Milieu der Nachkriegs-Ostzone (die Unterschiede zum Westen sind nicht so groß wie der Westen oder auch die altlinken Teile des Ostens manchmal gerne möchten) nicht ganz ohne. Ob ein stiller Femespruch der Umgebung oder persönliche Enttäuschung: Die alleinerziehende Frau Igel mit ihrem schwerziehbaren, halbrussischen Borstel (in der Namensgebung klingt die russische Rote-Rüben-Suppe Borschtsch mit an) ist in der 60er Jahre-Kinderfernsehwelt der DDR ein Tabubruch sondergleichen.

(wird fortgesetzt)