Wort der Woche

Bevor man sein Selbst verwirklicht, sollte man prüfen, ob sich der Aufwand lohnt

Johannes Gross, Publizist

Die Ähnlichkeit der Identitätsprobleme der Schlagersängerin Marianne Rosenberg mit denen des NVA-Armeegenerals a.D. Heinz Keßler müssen jedem ins Auge springen, der sich damit beschäftigt.  Leider beschäftigt sich niemand damit. Ausser mir. Laut Amazon kauften Menschen, die die Autobiografie „Kokolores“ von Marianne Rosenberg kauften, auch die CD „Für immer wie heute“ von Marianne Rosenberg oder die CD „Himmlisch“ von Marianne Rosenberg, aber nicht die Autobiografie „Zur Sache, zur Person“ (klingt ja erstmal ganz spannend, auch das Titelbild ist nix für schwache Nerven) des NVA-Armeegenerals a.D. Heinz Keßler und sie wurden auch nicht unter der Rubrik „Das könnte sie interessieren“ dazu aufgefordert.

Auf den ersten Blick haben Marianne Rosenberg und Armeegeneral a.D. Heinz Keßler nur zwei Dinge gemeinsam. Marianne Rosenberg schaut – zumindest ab dem späten Vormittag (auch dank exzellenter Maskenbilderinnen) –  immer noch tipptopp aus. Auch Heinz Keßler könnte sich für sein Alter noch sehen lassen, macht es aber nur noch sehr selten. Beide sind Raucher. Das wars dann aber auch schon. Für meinen Approach ist hier aber nur wichtig, dass sie in ihren Biografien ähnliche Identitätsprobleme erkennen lassen.

Die Identitätsprobleme Marianne Rosenbergs sind bekannt, beinahe schon Welterbe. Ich gehe aber trotzdem noch mal so mittelkurz auf sie ein, weil sonst nicht klar wird, was Armeegeneral a. D. Heinz Keßler falsch gemacht hat.

Ende der Sechziger bis Ende der Siebziger ist Marianne Rosenberg in westdeutschen Hitparaden unterwegs als pathologisch bindungsversessener, bis zum Stimmzittern selbstwertschwacher Backfisch mit allesverzeihendem Diasthema-Lächeln und Hang zur gesungenen Beschwerde (Stellvertretend dafür der Titel „Warum gerade ich?. Nein, es geht nicht um Krebs. Sie fragt sich bloß, was ihr Freund an ihr findet).

Irgendwann am Ende der Dekade stellen sich dann für Marianne Rosenberg selbst und die deutsche Marianne-Rosenberg-Forschung (hier z. B. Rosa von Praunheim in einem Anfall von Distanzschwäche: „dieses wundervolle Mädchen mit einer Haut wie Porzellan“) zwei wichtige Fragen. Die erste Frage (für Marianne Rosenberg selbst) war: „Bin ich so?“. Die zweite Frage (für die deutsche Marianne-Rosenberg-Forschung) war: „Kann man überhaupt so sein?“ Beide Male ist die Antwort: Nein. Nope. Njet. Is nich.

Erstens: In Echt ist auch die frühe, die niedliche Marianne Rosenberg geradezu altersuntypisch durchorganisiert, geerdet, paßt auf ihre Klamotten auf und kommt gut allein klar. In späteren Zeiten kommt sogar noch ein ausgesprochen selbstbewusster, urberlinischer, furchterregend trockener Mutterwitz dazu, der einem die Smash-Hit-Line „Er gehört zu mir“ eher wie eine Bemerkung aus dem Hundesport klingen läßt. Dazu passt, dass Marianne Rosenberg eine Stimmlage tiefer spricht, als sie singt.

Zweitens: Die Schlagertextperson der frühen Rosenberg-Hits, also ein Mädchen, dessen krasse Minderwertigkeitskomplexe nur noch von ihrem irren Sehnen nach ein paar Brosamen männlichen Zuspruchs übertroffen wird, dürften ausserhalb von Kliniken kaum, und schon gar nicht vor Publikum singend, anzutreffen sein.

Der Grund, warum die Lieder trotzdem funktionieren, liegt in der stählernen, aber eben rein formalen Inbrunst der Rosenberg, etwas, was sie selbst etwas abschätzig aber korrekt als„das Krähen“ bezeichnet.

Dazu ein selbstverfasstes Lehr-Gedicht im Alles Lyge-Stil:

Dass die Hähne morgens krähen

Kann man gerade so verstehen

Trotzdem sollte man erwähnen

Dass die Krähen niemals hähnen.

(Ja, sowas mach ich schnell mal so nebenbei. Toll nicht?)

Dieses langgezogene „Krähen“ konnte aber kein verantwortungsvoller Schlagerproduzent der Welt mit den Problemen der realen Marianne Rosenberg vertexten lassen. Man muss das hier mal in aller Deutlichkeit zur Verteidigung der damaligen Hansa-Musik-Industriellen sagen: „Ich habe gut gefrühstückt und schon ordentlich Makeup im Gesicht / Nur die Paspelierung meiner Schlaghose gefällt mir so noch nicht“ kann man zwar irgendwie singen, aber in hochgestochener Vibrato-Klage funzt es nicht. Menschen wollen große Gefühle haben, aber die Realität sieht anders aus. Männer zum Beispiel wollen große…

Okay, ich habe mich ein bisschen vom Wege ab analysiert. Langer Rede, kurzer Sinn: Das Ergebnis in der Marianne-Rosenberg-Biografie „Kokolores“ ist, dass sie über weite Strecken ihres Lebens öffentlich neben sich steht und so tut, wie alte Männer sich junge Mädchen vorstellen. (Fred Jay war immerhin schon Mitte Fuffzig, als Mr. Paul McCartney für die Dreizehnjährige schrieb.)

Ähnlich geht es Armeegeneral a. D. Heinz Keßler. In seiner – hier in Heldenstadt jedenfalls ständig ausgeliehenen – Biografie „Zur Sache, zur Person“ (wird vermutlich bei Insomnia verschrieben, wenn Medikamente nicht mehr helfen) umfassen die vierzig Jahre der DDR und damit die Zeit, in der Keßler 30 – 70 Jahre alt war, gerade mal ein Sechstel des gesamten Buches. Man könnte das militärisch als Massierung aller Kräfte auf den schwächsten Punkt verstehen, aber im Grunde meldet Keßler nur, gelebt zu haben. (Wenn Hans-Ulrich Wehler behauptet, die DDR sei nur eine Fußnote der Geschichte, dann gibt ihm Keßler seitenzahlmäßig recht.) Ebenso wie Marianne Rosenberg macht er so wenig Aufhebens von sich als öffentlicher Person (eine statistisch durchschnittliche Verkörperung sozialistischer Funktionärs…nun ja, „phantasien“ von abstrakter Friedensliebe und der Fähigkeit zur ordnungsgemäßen Durchführung aller im Sinne der letzten Beschlüsse beschlossenen Maßnahmen) wie er mit privaten Details spart, dass man gar nicht genau weiß, wem die Biografie nun gelten soll. Dem, den wir kennen, oder den, den wir kennenlernen möchten.

Während Marianne Rosenberg nun aber die Differenz zumindest thematisiert, wenn auch mit schlechtem Gewissen (ob ihr Ruhm auch zu solchem Kult geronnen wäre, wenn sie gleich von und an und für sich gesungen hätte, bleibt  fraglich), verwechselt Armeegeneral a. D. Heinz Keßler nach wie vor seine öffentliche Identität aus dem sozialistischen Funktionärsbaukasten mit dem Mann, der nachts aus seinem Bett aufsteht und zur Toilette geht.

Die internationale Heinz-Keßler-Forschung hat in ihren wenigen Wachphasen einige Gründe dafür herausgefunden, warum Heinz Keßler so wenig von sich als realer Person preisgibt. Die Gefahr, dass dem Gegner persönliche Vorlieben und Leidenschaften zur Kenntnis gelangen und er diese zur Wühlarbeit gegen den ersten Arbeiter-und-Bauernstaat auf deutschem Boden benützt, wird auch heute noch von Heinz Keßler als so groß eingeschätzt, dass Vor – und Zuname als privateste Entblößungen einer Biografie hinreichen müssen. Zudem soll der imperialistische Gegner mit einem Dauerfeuer von endlosen Mitteilungen über den Besuch von Tagungen und Konferenzen zum kognitiven Rückzug, wenn nicht sogar zur Aufgabe, gezwungen werden.

Am Ende bleibt die Frage, warum sich Heinz Keßler überhaupt der bürgerlichen Entäußerungsform der Biografie bedient. Es ist ein bißchen wie in der Filmstadt Babelsberg. Hinter den Kulissen ist nix. Das Leben war eine optische Täuschung aus einem bestimmten Blickwinkel.

Im Grunde hätte es gereicht, wenn nur eine einzige DDR-Funktionärsbiografie geschrieben worden wäre und alle anderen hätten unterzeichnet.

Heinz Keßler erhielt dreimal den Scharnhorst-Orden. Wir wissen leider nicht, ob er sich dreimal genauso doll darüber freute.

Heinz Keßler erhielt dreimal den Scharnhorst-Orden. Wir wissen leider nicht, ob er sich dreimal genauso doll darüber freute.